Neufassung von § 104 InsO: Liquidationsnetting („close-out netting“) trotz BGH-Rechtsprechung (wieder) wirksam

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) hat Ende Juli einen Referentenentwurf zur Änderung von § 104 Insolvenzordnung (InsO) zum Thema des sogenannten Liquidationsnettings (“close-out netting”) bei Finanztermingeschäften veröffentlicht und damit die öffentliche Konsultation eingeleitet. Der Entwurf ist eine direkte Reaktion auf das BGH-Urteil vom 09.06.2016, Az. IX ZR 314/14, worin der BGH die in Deutschland und auch international gebräuchlichen Nettingklauseln für den Insolvenzfall für unwirksam erklärt und erhebliche Verunsicherung ausgelöst hat, ob nach den maßgeblichen europäischen Eigenkapitalvorschriften regulierte Institute ihre Adressrisiken unverändert im Wege einer Netto-Betrachtung bestimmen dürfen. Der Referentenentwurf sieht eine Rückkehr zum status quo ante vor: die gebräuchlichen vertraglichen Nettingklauseln werden ausdrücklich für wirksam erklärt, auch soweit sie vom gesetzlichen Regelungsmodell zur Abrechnung von Fixgeschäften in der Insolvenz abweichen.

Hintergrund der Gesetzesänderung – das BGH-Urteil vom 09.06.2016

Nach dem BGH-Urteil sind Netting- oder Abrechnungsvereinbarungen, die für den Insolvenzfall vom gesetzlichen Regelungsmodell des § 104 InsO abweichen, gemäß § 119 InsO unwirksam. Im Urteilssachverhalt führte eine Abrechnung gemäß § 104 InsO zu einem erheblichen Zahlungsanspruch der Insolvenzmasse gegenüber der solventen Gegenpartei, weil die insolvente Partei am gesetzlich maßgeblichen Stichtag unmittelbar nach Insolvenzeröffnung “im Geld” war. Hingegen hätte dieser Zahlungsanspruch nach der vertraglichen Nettingvereinbarung nicht bestanden. Danach hätte die solvente Gegenpartei vielmehr lediglich einen etwaigen Vorteilsausgleich an die Insolvenzmasse leisten müssen, gedeckelt auf den von der insolventen Partei erlittenen Schaden. Diese vertragliche Regelung war nach Ansicht des BGH eine zu Lasten der Insolvenzasse von § 104 Abs. 3 InsO abweichende Berechnungsweise, die entsprechende Nettingvereinbarung somit gemäß § 119 InsO unwirksam.

Unmittelbare Reaktion der Exekutive und Legislative auf das Urteil

Am Tag der Urteilsverkündung, dem 09.06.2016, ereignete sich ein seltener Fall des konzertierten Zusammenwirkens der “drei Gewalten”. Noch am selben Tag erließ die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) eine für den Tag der Urteilsverkündung schon vorbereitete, ausführlich begründete Allgemeinverfügung. Danach müssen sämtliche Marktteilnehmer, die Partei von vertraglichen Nettingvereinbarungen mit regulierten Kreditinstituten oder Finanzdienstleistungsinstituten sind (wonach das Institut oder sein Vertragspartner bei Ausfall einer der beiden Parteien nur auf den Saldo der positiven und negativen Marktwerte der erfassten Einzelgeschäfte einen Anspruch hat), diese Vereinbarungen gemäß dem Wortlaut abwickeln. Die Marktakteure werden also durch Verwaltungsakt zur Umsetzung von höchstrichterlich für nichtig erklärten Vertragsklauseln verpflichtet. Der Anlass zu dieser drastischen Maßnahme ergab sich aus europarechtlichen Vorgaben. So dürfen die Institute gemäß Art. 295 ff. der “CRR” (“Capital Requirements Regulation” – Verordnung (EU) Nr. 575/2013 vom 26.06.2013) vertragliche Nettingvereinbarungen im Rahmen der Eigenmittelanforderungen zur Berechnung des Adressrisikos u.a. nur dann als risikomindernd behandeln, wenn sie von den zuständigen Behörden anerkannt wurden. Das “gesetzliche Netting” gemäß § 104 InsO entspricht jedoch nicht den europarechtlichen Vorgaben (Art. 296 Abs. 2a) CRR und andere Bestimmungen), wonach das Netting zum Zeitpunkt des “Ausfalls” (der typischerweise schon bei Insolvenzantragsstellung vorliegt) erfolgen muss, nicht erst bei der oft erst Wochen später stattfindenden Insolvenzeröffnung. Die BaFin sah sich daher zum ausdrücklichen Bekenntnis gezwungen, dass sie die (höchstrichterlich für nichtig erklärten!) Nettingvereinbarungen weiterhin im Sinne der genannten CRR-Bestimmungen anerkennt. Als Rechtsgrundlage der Allgemeinverfügung musste die BaFin tief in die Trickkiste greifen. Die BaFin bediente sich des § 4a Wertpapierhandelsgesetz, wonach die BaFin im Benehmen mit der Deutschen Bundesbank befristete Anordnungen treffen darf, um Missstände zu verhindern, die “Nachteile für die Stabilität der Finanzmärkte bewirken oder das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte erschüttern können”. Parallel dazu veröffentlichten das BMJV und das Bundesministerium der Finanzen noch am 09.06.2016 eine Erklärung, wonach unverzüglich gesetzliche Reparaturmaßnahmen zur Anpassung von § 104 InsO auf den Weg gebracht würden. Die BaFin-Allgemeinverfügung ist bis Ende 2016 befristet. Es ist also mit einem Inkrafttreten der Gesetzesänderung noch im Jahr 2016 zu rechnen.

Inhalt des Referentenentwurfes

Während das BMJV in dem Referentenentwurf dem BGH zugesteht, dass die aktuelle Gesetzesfassung nach Wortlaut und Systematik die vom BGH vertretene “Lesart” zulasse, macht das BMJV unmissverständlich deutlich, dass die Konsequenz des Urteils vom Gesetzgeber nicht intendiert war, was sich auch schon aus früheren Gesetzesmaterialien ergebe. Die Änderungen in § 104 InsO n.F. gegenüber der aktuellen Gesetzesfassung bestehen – neben einer terminologischen Aktualisierung und systematischen Straffung der Vorschrift – im Wesentlichen in der ausdrücklichen Regelung, dass die Parteien eines Finanztermingeschäftes (oder eines sonstigen Fixgeschäftes) individualvertraglich abweichende Bestimmungen treffen können. Insbesondere können die Parteien vereinbaren, dass die gegenseitigen Erfüllungsansprüche bereits zu einem Zeitpunkt erlöschen, der vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens liegt (z.B. bei Stellung eines Eigenantrags auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens oder bei Vorliegen eines Eröffnungsgrundes). Spätestmöglicher Stichtag für das Netting ist der fünfte bzw., soweit zum Zwecke einer “wertschonenden Abwicklung erforderlich”, der zehnte auf die Eröffnung des Insolvenzverfahrens folgende Werktag. Die geplante Gesetzesänderung stellt damit klar, dass die gebräuchlichen close-out netting Vereinbarungen wirksam sind (z.B. gemäß Nr. 7 ff. des vom Bundesverband der deutschen Banken veröffentlichten “Deutschen Rahmenvertrages für Finanztermingeschäfte”).

Folgen der geplanten gesetzlichen Regelung

Bedeutet diese geplante Gesetzesänderung also nichts weiter als das Aus-der-Welt-Schaffen eines BGH-Urteils, das erklärtermaßen nicht dem Willen des Gesetzgebers entspricht? Nicht nur. Vielmehr beinhaltet der aktuelle Referentenentwurf – möglicherweise unbewusst – eine Bekräftigung einer allgemeinen Rechtsprechungslinie des BGH, die sich im Urteil vom 09.06.2016 manifestiert hat (hierauf weist der Deutsche Anwaltsverein (DAV) in seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf zutreffend hin). Der BGH hält sog. insolvenzabhängige “Lösungsklauseln”, die eine Vertragsbeendigung im Falle des Eintritts insolvenzbezogener Umstände (z.B. Zahlungseinstellung, Insolvenzantrag) zulassen, für unwirksame Abweichungen vom insolvenzrechtlichen Regelungsmodell (siehe das Urteil über langfristige Energielieferverträge vom 15.11.2012, Az. IX ZR 169/11). Nach dieser Rechtsprechungslinie soll eine vertragliche Vorverlegung der Vertragsbeendigung auf z.B. den Insolvenzantragszeitpunkt eine vom Gesetz nicht zugelassene Umgehung von Gestaltungsrechten des Insolvenzverwalters und damit eine unwirksame Abweichung vom Gesetz darstellen. Das ist auch angesichts der Gesetzesmaterialien zur Insolvenzordnung durchaus diskussionswürdig. Der Referentenentwurf scheint diese BGH-Rechtsprechung nun zu zementieren, indem er die Möglichkeit der vertraglichen Vorverlegung von Aufhebungszeitpunkten nur bei Fixgeschäften gesetzlich regelt. Der Gegenschluss, wonach das bei allen anderen Vertragstypen nicht zulässig sei, läge sehr nahe. Diese Konsequenz ist jedoch rechtspolitisch fragwürdig. Warum sollten die Vertragsparteien insolvenzbedingte Aufhebungszeitpunkte nicht einvernehmlich früher ansetzen dürfen als auf den Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung? Ein Überdenken des Gesetzesentwurfes ist an dieser Stelle zu wünschen.

Unabhängig von dieser rechtspolitischen Diskussion gilt es für die Praxis angesichts dieser Gesetzesinitiative in besonderem Maße (auch außerhalb des Bereichs der Finanztermingeschäfte) Vorsicht bei der Ausgestaltung von insolvenzbedingten Beendigungsklauseln walten zu lassen.

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